2011, 80 Seiten; Farbe und Schwarzweiss; Deutsch/Englisch; Auflage 500 Stk.
mit Norbert Gmeindl (AT), Franz Gruber (AT), Simon Häussle (AT), Michael Jordan (DE), Helmut Kaplan (AT), Michaela Konrad (AT), Andreas Leikauf (AT), Nicolas Mahler (AT), Bernhard Raschl (AT/GT), Leopold Schmidt (AT), Edda Strobl (AT), Aleksandar Zograf (SRB) / Alootook Ipelie (CAN)
Edda Strobl: 4 Seiten aus der grafischen Novelle „Nordpol“
Michael Jordan
Helmut Kaplan
li: Jordan/Kaplan/Strobl, re: Andreas Leikauf
li: Leopold Schmidt, re: Simon Häussle
Die Welt als Skizze und Erzählung
Im November 2008 war im Falter zu lesen, das neue Heft von Tonto Comics werde „gerade fertig“. Im Nachhinein betrachtet muss man das als Falschmeldung bezeichnen. Denn erst vor wenigen Tagen ist das vorzeitig angekündigte Heft auch wirklich erschienen. „Nordpol“ heißt es, ist als Doppelheft mit einem beide Teile elegant verbindenden Cover angelegt, und darf angesichts seines im Vergleich zu früheren Tonto-Projekten imposanten Umfangs von achtzig feinst gearbeiteten und kolorierten Seiten und seiner unmittelbaren haptischen Qualitäten ruhig als Buch, ja, als Buchobjekt bezeichnet werden. Man spürt sofort, dass dergleichen nicht über Nacht entsteht.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich Edda Strobl und Helmut Kaplan, die vor zehn Jahren mit „Genossen“ das erste „große“ Tonto-Heft produzierten, in der avancierten europäischen Comicszene inzwischen durchaus Renommee erworben haben. Festivals müssen also besucht, Ausstellungen kuratiert und Workshops abgehalten werden. Das kostet Zeichen-Zeit, bringt im Gegenzug aber Kontakte zu gleichgesinnten Künstlern, deren Arbeiten dann regelmäßig Eingang in das Tontoversum finden. Diese Woche sind Strobl und Kaplan am Fumetto in Luzern zu Gast, einem der wichtigsten Comicfestivals des Kontinents, um ihr neues Buch „Nordpol“ zu signieren. In Luzern richten heuer Zeichner wie Daniel Clowes, Atak oder Tommi Musturi Ausstellungen aus. Nicht auszuschließen, man findet den einen oder anderen dieser Namen dereinst auch in einem Tonto-Band.
Von seiner Struktur ist „Nordpol“ – ähnlich wie die Vorgängerhefte – als vielschichtige Metaerzählung angelegt. Während Anthologien wie „Orang“ oder „Kramers Ergot“ bloß grobe inhaltliche oder formale Klammern vorgeben, an die sich die eingeladenen Zeichner dann mehr oder weniger halten müssen, sind die Einzelbeiträge in Tonto-Heften derart stark miteinander verwoben, in ihrer Abfolge so präzise aufeinander abgestimmt, als wären sie von Anfang an im Kollektiv konzipiert worden. In gewissem Sinn sind sie das auch. Es sind „(seltsam) verschlungene Wege“ – so der Titel von Strobls Editorial im Heft -, die alle zwölf Comiczeichner von „Nordpol“ irgendwann einmal zueinander geführt haben.
Ein eindringliches Beispiel: Zu Strobls Editorial ist ein Foto ihres linken Unterarms gestellt, die Tätowierung darauf – ein Totenkopf mit dem Schriftzug „MOM“ – hat Bernhard Raschl nach einer Zeichnung von Norbert Gmeindl angefertigt, die bereits am Cover von Heft 9 auftauchte. In „Nordpol“ zeigt Gmeindl nun passend „eisige“ Auszüge aus seiner mystisch-dunklen Zeichenwelt – Eisschollen, Walrösser -, Raschl steuert einen Zweiseiter über das guatemaltekische Dorf San Pedro La Laguna bei, wo er seit ein paar Jahren lebt. San Pedro ist schließlich der Ort, in dem die beiden jungen Frauen stranden, deren Reise Strobl in ihrer autobiografisch gefärbten Langerzählung beschreibt. Und darin zitiert Strobl wiederum eine Zeichnung von Gmeindl. Sowie den früh verstorbenen Inuit-Künstler Alootook Ipellie, dem der serbische Zeichner Aleksandar Zograf, ein weiterer langjähriger Tonto-Wegbegleiter, ein Kurzporträt im Heft widmet. Man darf sich das Tontoversum als Welt vorstellen, in der Zeichnen und Leben Hand in Hand gehen, ein Tonto-Buch daher als eine auf höchstem Niveau gezeichnete Momentaufnahme künstlerischer wie sozialer Praktiken.
Dabei könnten die Teilnarrationen stilistisch kaum unterschiedlicher sein. Für sich betrachtet liegen Welten zwischen den ironisch-philosophischen Cartoons eines Nicolas Mahler, der den „Nordpol“ zwischen „humor“ und „drama“ absteckt, den pettibonesken Skizzen Helmut Kaplans, einer Picasso-Paraphrase, wie sie Michaela Konrad mit „On the Beach“ versucht, oder den Arbeiten von Andreas Leikauf, die sich zwar aus dem Reich der Comiczeichen speisen, sonst aber stark in der Bildenden Kunst verankert sind.
Schlüsselerzählung des Bandes ist das titelgebende „Nordpol“, ein von Strobl konzipierter und gemeinsam mit Kaplan und Simon Häussle ausgeführter Road-Strip, der zwei junge Frauen, Edda und Barbie, nach Guatemala, Honduras und zurück in die USA führt. Es ist die Geschichte einer fiebrigen Reise, für Strobl zudem eine in die eigene Vergangenheit. Stärker aber als etwa Ulli Lust in ihrem großartigen Buch „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“, das heuer den Prix Révélation in Angouleme gewann, nimmt Strobl Distanz zum Geschehen ein, rückt die metaphorische Erzählung einer Freundschaft, die erkaltet, in den Vordergrund. Panelaufteilung und Pacing der Geschichte sind souverän gelöst, auf detailreiche Splash-Pages folgen in immer kleinere Kader gepackte Reisepassagen, bis die Erzählung in einer Wohnung in Atlanta, vor einem Gefrierfach, in großen, ruhigen Bildern völlig erstarrt.
Mit „Nordpol“ ist Strobl und Kaplan nicht nur der bislang schlüssigste Band der zehnjährigen Labelgeschichte geglückt, sondern ein Referenzwerk, das auch keinerlei Vergleich mit den besten zeitgenössischen Produktionen im deutschsprachigen Raum scheuen muss. Man darf sich schon auf Tonto-Heft 13 freuen, angeblich wird es „gerade fertig“.
Thomas Wolkinger in Falter : Stmk 14/2011 vom 30.3.2011 (Seite 50)