EXISTENZ & PETITESSEN

#26
Preis: 5,00 €

TONTO 25 JAHRE: EXISTENZ & PETITESSEN

kunst galerie fürth, Fürth, DE
4. 5. bis 16. 6. 2019

Publikation zur Ausstellung
eine Tonto / kunstgalerie fürth Koproduktion; mit einem Text von Thomas Wolkinger

Thomas Wolkinger

Der momentane Zustand

Der momentane Zustand der Welt ist nicht einfach auf den Punkt zu bringen. Vieles hängt von der Perspektive ab, die man einnimmt, von den Begriffen, die man ansetzt. Man kennt das Problem. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Moment eben nur so lange dauert, wie ein nächster braucht, um sich zu ereignen, in der Regel also nicht sehr lange. In einem einzigen Moment kann sich alles ändern. Schließlich ist strittig, wie es mit der Welt überhaupt soweit kommen konnte. Urknall, Ursuppe – nicht einmal über die Anfänge herrscht Klarheit, mit dem Homo sapiens werden die Dinge dann vollends unübersichtlich. Der momentane Zustand der Welt stellt sich jedenfalls – soviel ist bei aller Dunkelheit, die über ihrem Beginn liegt, sicher – als flüchtiges Substrat einer komplexen Reihe natürlicher wie künstlicher Ereignissen dar, die mehr oder weniger miteinander in Zusammenhang stehen.

Mit dem momentanen Zustand von Tonto ist es im Grunde nicht anders. Der Begriff geht wohl auf den Moment zurück, in dem ihn Helmut Kaplan im Jahr 1994, also vor 25 Jahren, für sein No-Budget-Tape-Projekt für experimentelle Grazer Bands aus einer Liste von mehreren Wörtern auswählte, die, wie er sagt, „nirgends dazugehörten“. Wie diese Liste entstand und welche anderen Wörter, die nirgends dazugehörten, zur Auswahl standen, liegt im Dunkeln. Dass der Begriff tatsächlich sehr wohl bereits damals zu etwas „gehörte“, also etwas bezeichnete (den indianischen Begleiter des 30er-Jahre-Western-Helden Lone Ranger zum Beispiel oder einen „Trottel“ im Italienischen) spielte keine Rolle, weil Kaplan zunächst unbekannt.

Auch als sich Tonto 1998 zu einer Serie von CD-Releases transformierte, am Ende waren es 30 Veröffentlichungen, sollte der Begriff kein „Label“ im herkömmlichen Verständnis bezeichnen, erst recht keine „Marke“, die vorformierte, was dann an künstlerischer Produktion „dazugehören“ würde. Vielmehr diente der Begriff umgekehrt als „leerer Signifikant“, dessen Bedeutungsspektrum sich durch die subjektiven Positionen unterschiedlicher Musiker von Release zu Release erst erschließen, erweitern, verändern sollte. Wie von selbst formierte sich durch diese Reihe ein künstlerisches Feld, ein Referenzrahmen, ein – bei aller Verschiedenheit der Zugänge – gemeinsames Selbstverständnis, das unter anderem durch einen experimentellen „Wunsch nach Entdeckung“ charakterisiert war, wie das eine „Tonto Info“ aus dem Jahr 2001 formulierte, sowie durch das grundsätzliche Interesse, sich in den Releases aufeinander zu beziehen.

Im Grunde gilt das heute noch, macht das hochreflexive Weiterschreiben, Weiterforschen in unterschiedlichsten Interaktionskontexten, das Experimentieren mit immer anderen Übersetzungsformaten an unterschiedlichen Verdichtungsorten nach wie vor den Kern des Tontoesken aus. Das gemeinsame „Bohren in Welt“ also. So nennt sich ein langjähriges Format von „Tonto Comics“, der „Plattform für ‚Bild Text Literatur‘“, die Edda Strobl im Jahr 2000 zu Tonto gesellte und die sie seither mit Kaplan zu einer produktiv und zumindest europaweit wuchernden Genossinnen- und Genossenschaft entwickelt hat. Heute bezeichnet sich Tonto Comics selbstbewusst als „Künstlerinnen- und Künstlerkollektiv“, was doch einen Unterschied zum „leeren Signifikanten“ der ersten Tonto-Jahre als Musik-Non-Label markiert.

Bei aller Ähnlichkeit ist das Comic-Feld eben anders strukturiert. Erst durch Formatsetzungen wie die Tonto Mini-Comic Neigungsgruppe (ab 2003), die Tonto Comicfestivals (2003 und 2004), immer zahlreichere internationale Ausstellungs- und Festivalbeteiligungen sowie die laufenden Publikationen (tonto #1 „Genossen“ erschien 2001), die außer thematischen und formalen Fragestellungen jeweils auch Selbstverständnis und Zugehörigkeiten neu verhandelten, wurden die Dimensionen und Potenziale des Feldes nach und nach sichtbarer. 2003 stieß Michael Jordan zum Kern des Kollektivs, der heute mit dem Atelier Frauenaurach Erlangen einen eigenen zentralen Tonto-Produktions- und Druckstandort betreibt. Von 2010 wirkt Simon Häussle verstärkt aus Wien mit, dessen eigene Aktivitäten unter dem wiederum sehr offenen Non-Label „House“ für weitere produktive Netzwerkinterferenzen verantwortlich sind.

Über die vielfachen Verästelungen und Verbindungen zu anderen, über ganz Europa verstreuten Gruppen, Kollektiven und Comic-Netzwerken wie Komikaze (HR), Le Dernier Cri (F), Canicola (I), Kuti und Glömp (FI) oder Kush (LT) – über die Jahre hinweg einmal stärker, dann wieder schwächer ausgeprägt – ist da noch gar nichts gesagt. Der momentane Zustand von Tonto ist nicht einfach auf den Punkt zu bringen.

Dass dieser Zustand nach wie vor sehr stark musikalisch geprägt ist, lässt sich vielleicht noch ergänzen. Nicht nur aufgrund der eigenen Musikprojekte von Helmut Kaplan („17 Stücke“; GOD Records #45, tonto #22, 2017) und Edda Strobl (Stroblak mit Renate Oblak). Sondern auch durch eine Reihe von Versuchsanordnungen und Publikationen, die über die Jahre Analogien, Gleichklänge, Verschränkungs- und Überlagerungspotenziale zwischen Comics und Musik auszuloten suchten. Dazu gehören Projekte wie „Tat Eve“ (2009) ebenso wie das „große“, im Avant-Verlag erschienene Heft „Noise“ (tonto #13, 2012) sowie dessen Begleitheft „Suite: Radiation“ von Simon Häussle (tonto #17, 2016). Nachhall zum Urknall. Besser als mit einem kurzen Text, der in „Noise“ erschien, lässt sich der momentane Zustand von Tonto, aufgenommen im Jahr 25 nach der Auswahl eines Begriffes aus einer Liste von Wörtern, die „nirgends dazugehören“, vielleicht ohnehin nicht auf den Punkt bringen: „Entsprechend einem Musikstück ist auch die Narration: Lauter Höhepunkte – Explosionen, Verdoppelungen, Verfusselungen und Granulate. Und endet in einer Seite, die ‚Stille‘ heisst. Leichter Nachklang mit Fragestellung.“ (Februar 2019)